Deutschland ist bei der ungewöhnlichsten Weltmeisterschaft aller Zeiten schon nach der Beendigung der Vorrunde nicht mehr dabei.

Über den Sieg gegen Costa Rica konnte sich am Ende niemand mehr freuen. Spanien verdarb uns mit der unerwarteten Niederlage gegen Japan die Stimmung. Unsere Mannschaft hat das Minimalziel Achtelfinale nicht erreicht und schied nach der Gruppenphase vorzeitig aus.

wmpokalIm Spitzensport entscheiden manchmal Nuancen zwischen Himmel und Hölle. Hätten 2014 die Algerier im Achtelfinale den durchaus möglichen Siegtreffer erzielt, wäre „der Geist von Campo Bahia“ wohl unentdeckt geblieben. Das 7:1 gegen Brasilien und der anschließende WM-Triumph - es wären nur Geschichten aus der Märchenstunde geblieben. Wären die Ungarn im WM-Finale 1954 nicht gar zu großzügig mit ihren hochkarätigen Chancen umgegangen, die anrührende Geschichte vom Wunder von Bern wäre nie geschrieben worden.

Hätten die Schüsse von Gündogan und Gnabry den Weg ins japanische Tor und nicht an den Pfosten gefunden, dann hätte es den Katzenjammer danach nie gegeben. Wäre das umstrittene Siegtor der Japaner im Spiel gegen Spanien aberkannt worden, stände unsere Elf im Achtelfinale. „Hätte, hätte Fahrradkette“ ist bei den Fußballexperten zwar verpönt, aber der Spruch hat schon seine Gültigkeit.

Trotzdem mussten wir uns schon vor dem Turnier damit abfinden, dass wir keine Weltklasse-Mannschaft mehr haben. Bei den letzten zwei großen Turnieren (WM in Russland, EM in England) wurden mehr Spiele verloren als gewonnen. Anlass zur Arroganz war also fehl am Platze. Wie heißt es doch richtig? Hochmut kommt vor dem Fall, Antonio Rüdiger!

Als der Abwehrchef von Real Madrid einem in seinen Augen unbedeutenden japanischen Spieler vom VfL Bochum mal eben im Kniehebestorchenlauf den Unterschied zwischen einem Weltstar und einem Mitläufer zeigen wollte, lief eben dieser Asano ein wenig später Schlotterbeck (Angst vor einem Elfmeter) davon und erzielte gegen den oftmaligen Welttorhüter Neuer den nicht unhaltbaren Siegtreffer.

Im zweiten Spiel gegen Spanien zeigte Rüdiger dann aber wieder ohne Überheblichkeit seine Klasse und hatte nur Pech mit einem knapp nicht gegebenen Abseitstor. Die gesamte Mannschaft steigerte sich und kam in einem richtig guten Fußballspiel durch Füllkrug zu einem gerechten Unentschieden.

Beim Spiel gegen Costa Rica gab es wieder kaum nachvollziehbare Abwehrschwächen. Dortmund hat mit Süle, Schlotterbeck und Hummels drei Nationalspieler, von denen Hummels die beste Form hatte. Der aber blieb zu Hause, weil er wohl nach Hansi Flick zu unbequem und meinungsstark den inneren Frieden dieser Truppe gefährdete. Leider hat die Mannschaft immer Schwierigkeiten, um gegen tief stehende Mannschaften ein angemessenes Konzept zu finden.

Trotzdem verdient die Elf nach dem 1:2 ein Kompliment für die Aufholjagd zum 4:2 Sieg. Der aber fühlte sich durch den Erfolg der Japaner gegen Spanien wie eine Niederlage an. Man sollte jetzt aber bei der Kritik nicht maßlos sein. Letztlich haben nur 20 schlechte Minuten gegen Japan das Schicksal der Mannschaft besiegelt. Deshalb ist auch die in Deutschland traditionelle Häme nach einem Ausscheiden der Elf bei einem großen Turnier nicht angebracht. An den Schwächen aber muss der deutsche Fußball intensiv arbeiten, um sich wieder zu verbessern.

Die Innenverteidigung, besonders aber die Außenverteidiger genügen den internationalen Ansprüchen schon lange nicht mehr. Einen klassischen Mittelstürmer oder Knipser, der die gut herausgearbeiteten Torchancen treffsicher verwertet, haben wir aber schon seit längerer Zeit auch nicht mehr. Es sei denn, der schon fast 30-jährige Niclas Füllkrug löst dieses Problem bis zur Europameisterschaft. Das wäre für den Erfolg der Mannschaft wesentlich effektiver als all die Mitarbeiter, die aus einem so simplen Spiel wie Fußball eine Wissenschaft machen. In gleichem Maße gilt das auch für die Kommentatoren mit dem Gastplauderer. Einfach mal zu schweigen, um die Dramaturgie dieses wundervollen Spieles auf die Zuschauer wirken zu lassen, ist wesentlich besser als ihnen unbedingt zeigen zu wollen, wie rhetorisch begabt so ein ehemaliger Durchschnittsspieler ist.

maulkorbmannschaftDie deutsche MaulkorbmannschaftÜber Katar, die korrupte FIFA und die leistungshemmenden Nebenschauplätze dürfte es keine zwei Meinungen geben. Außer Gianni Infantino gab es außerhalb Katars kaum Menschen, die diese Skandal-WM nicht kritisierten. Also sollten Kapitänsarmbinden auf die Missstände aufmerksam machen. Mutig wollte man mit den Regenbogenfarben oder zumindest mit der „One love“- Binde Flagge für „unsere Werte“ zeigen. Unsere Werte? Die One love Armbinde gilt als Zeichen gegen Homophobie, Antisemitismus und Rassismus.

Moralüberhöhung ohne Realitätsbezug ist etwas peinlich. Denn im wirklichen Leben sieht es doch nun einmal so aus: Bisher hat sich noch kein aktiver Fußballspieler aus Deutschlands Profiligen geoutet. Thomas Hitzlsperger hatte wohl aus gutem Grund erst am Ende seiner Karriere diesen Schritt gewagt. Dieses dürfte wohl als Beleg dazu ausreichen, dass auch im deutschen Fußball viele seiner Anhänger durchaus noch immer homophob sind. Also, bevor man großspurig der Welt erklärt, wie fortschrittlich man ist, sollte man erst einmal in seinem eigenen Land dafür sorgen, dass Homophobie oder Antisemitismus keine wirkliche Chance bei uns haben. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Die Zahl der antisemitischen Straftaten steigt in einem Land, das einst die Ausrottung des Judentums als seine oberste Aufgabe ansah, stetig an.

Wie antisemitisch ist Deutschland? | NDR.de - Kultur - Film

Lagebild des Verfassungsschutzes: Antisemitismus in der Pandemie verstärkt | tagesschau.

Abgesehen davon sollte man sich selbst auch schon ein wenig ehrlicher machen. 2018 gab es eine Weltmeisterschaft in Russland. Putin ist neben seinem schäbigen Charakter auch für seinen Hass auf gleichgeschlechtliche Lebensformen bekannt. Während dieses Thema bei der WM in Russland und auch bei den olympischen Spielen in Sotchi in den deutschen Medien überhaupt keine Rolle spielte, versucht man jetzt in Katar, die einheimischen Leute zu belehren.

Dieses soll keineswegs heißen, dass man Katar nicht kritisieren dürfte. Ganz im Gegenteil. Die Vergabe der Weltmeisterschaft an dieses Land war der größte Fehler der jüngeren Sportgeschichte. Dass der Bau der Stadien mit dem Tod vieler Arbeitsmigranten bezahlt wurde, ist zynisch und grausam. Einem Land ohne jegliche Fußballtradition nur wegen seines unermesslichen Reichtums eine Fußball-WM zu schenken, ist skandalös. Was der katarische WM-Botschafter Khalid Salman im Gespräch mit dem ZDF-Journalisten Jochen Breyer so von sich gab, war unterirdisch.

Wie feindlich die Gastgeber mit israelischen Besuchern umgehen, erlebte der größte Teil der Zuschauer aus dem jüdischen Staat. Westliche Armbinden zu verbieten, aber selbst eine „Free Palestine Binde“ zu tragen, zeugt nicht eben gerade von Toleranz und übertriebener Gastfreundschaft.

Auch in diesem Zusammenhang muss man die Rolle Katars sehr kritisch sehen. Die Scheichs unterstützen mit Milliardenbeträgen die Hamas in Gaza. Dort wird das Geld zum größten Teil nicht etwa in die Infrastruktur, sondern in Waffen gesteckt, um die wirkliche Absicht, „Free Palestine - Auslöschung des Judenstaates“ endlich zu erreichen. Der Iran spricht ganz offen von diesem Ziel. So fürchtet man sich in Israel vor der Wiederholung der Geschichte, wählt deshalb rechts und unterdrückt somit die Menschen in der Westbank. Diese Entwicklung ist ganz schlimm, dringend benötigte Politiker wie Rabin und Sadat sind nicht zu erkennen.

Unsere Mannschaft wurde nach dem FIFA-Bindenverbot wegen ihrer Weigerung, das Turnier zu boykottieren, hart von Teilen der deutschen Presse attackiert. So war immer wieder vom Einknicken die Rede. Mag ja sein, aber ihre Art des Maulkorbprotestes war immerhin ein Zeichen. Andere Nationen mit der gleichen Ausgangslage machten schließlich gar nichts.

iranwm22Die schweigende iranische ElfDie wahren Helden aber sind die iranischen Nationalspieler. Sie wussten zum Zeitpunkt ihres Protestes (Schweigen bei der Nationalhymne) nicht, was an Strafen auf sie zukommen wird. In ihrem Land wehren sich immer mehr Menschen todesmutig gegen das entsetzliche Mullah-Regime.

Aber auch hier sollten wir nicht zu selbstgefällig sein und uns daran erinnern, wie gnadenlos deutsche Spieler kritisiert wurden, wenn sie die Hymne nicht mitsangen. Mesut Özil kann im wahrsten Sinne des Wortes ein Lied davon singen.

Zurück zum Iran: Im zweiten und dritten Spiel war der Druck scheinbar zu groß, denn die Spieler sangen teilweise gequält mit. Bei Einblendungen auf Gesichter iranischer Zuschauer während der Hymne der ersten zwei Spiele wurde das Drama ihres Landes vollends sichtbar. Frauen und Männer weinten zum Herzerbarmen. Kein Wunder, sind sie doch die größten Opfer der mittelalterlichen Willkürherrschaft ihrer geistlichen Oberhäupter. In dem Land haben fortschrittlich denkende Menschen begriffen, dass sie durch ihre Proteste einen Regimewechsel erreichen können. Viele bezahlen diesen Mut mit Haftstrafen oder mit dem Leben. So wie erst kürzlich Mahsi Amini, deren einziges Verbrechen darin bestand, das Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen zu haben.

Dieser Bericht wurde unmittelbar nach dem Spiel gegen Costa Rica geschrieben. Deshalb ist es keine komplette WM Geschichte, sondern sie reicht nur bis zum Abschluss der Gruppenphase der deutschen Mannschaft. Bei einer Weltmeisterschaft ist alles möglich. Vom frühen Ausscheiden bis zum Titel. Gerade deshalb übt der Fußball diese Faszination aus. Bei der WM in Katar allerdings benötigte man schon ein gewisses Maß an Überwindung, um sich die Spiele überhaupt anzuschauen.